Montag, Januar 11, 2010

Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller: Schriftsteller Franz Th. Schleich hat mich bei der Securitate denunziert




Herta Müller fordert Ermittlungen gegen Securitate-Spitzel in Deutschland
Zeitzeugen, Schriftgutachten und Wissenschaftler bestätigen ihre Aussage


Die Langfassung des SWR-Films ist hier zu sehen: Der Spitzel und die Nobelpreisträgerin (XL-Version).



SWR, 11.01.2010

Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller: Schriftsteller Franz Th. Schleich hat mich bei der Securitate denunziert

Zeitzeugen, Schriftgutachten und Wissenschaftler bestätigen ihre Aussage
Herta Müller fordert Ermittlungen gegen Securitate-Spitzel in Deutschland

Mainz. Der Schriftsteller und Publizist Franz Thomas Schleich soll die deutsche Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller in den 1980er Jahren für den rumänischen Geheimdienst Securitate unter dem Decknamen „Voicu“ bespitzelt haben. Einer seiner Berichte steht am Anfang der Opferakte von Herta Müller und war nach Ansicht von Experten der Anlass für die Securitate, die rumäniendeutsche Schriftstellerin ins Visier zu nehmen. Das berichtet das ARD-Politikmagazin REPORT MAINZ heute Abend um 21.45 Uhr im Ersten unter Berufung auf Aktenbelege, Zeitzeugenberichte, ein Schriftgutachten und die Einschätzung des Rumänien-Experten der Birthler-Behörde.

Herta Müller bestätigt die Recherchen von REPORT MAINZ. Wörtlich erklärt sie im Interview: „Ja, Franz Schleich steckt dahinter.“ Schleich habe als Spitzel „Voicu“ für die Securitate einen Bericht verfasst, in dem er ihrem ersten veröffentlichten Text, dem Roman „Niederungen“, staatsfeindliche Tendenzen vorgeworfen habe. Herta Müller vermutet, möglicherweise seien „Neidkomplexe“ im Spiel gewesen. Georg Herbstritt, Rumänien-Experte der Birthler-Behörde, erklärt gegenüber REPORT MAINZ zum „Voicu“-Bericht: „Das ist für den Geheimdienst, die Führungsoffiziere, der Anlass gewesen, eine Akte über Herta Müller zu eröffnen und die Verfolgung einzuleiten.“

Herta Müllers früherer Ehemann Richard Wagner, sowie die rumäniendeutschen Schriftsteller Horst Samson und William Totok, die damals zum Literaturkreis um Herta Müller gehörten, erklären gegenüber REPORT MAINZ, sie hätten „Voicu“ zweifelsfrei als Franz Thomas Schleich identifiziert. Ein Schriftgutachten im Auftrag von REPORT MAINZ untermauert diese Aussagen: Darin heißt es, die untersuchten handschriftlichen Securitate-Berichte unter dem Decknamen „Voicu“ stammten „mit mindestens hoher Wahrscheinlichkeit“ von Franz Thomas Schleich.
Historiker Herbstritt erklärt im Interview gegenüber REPORT MAINZ: „Wenn man die Akten der Betroffenen zusammenlegt, wenn man die Erinnerungen der Betroffenen mit heranzieht, dann gibt es eigentlich keinen Zweifel, auf wen es hinausläuft.“ Die Aussagen Herta Müllers und der anderen Zeitzeugen seien „völlig plausibel“.

Franz Thomas Schleich wollte sich auf Anfrage von REPORT MAINZ zu den konkreten Vorwürfen nicht äußern. In einer E-Mail schrieb er lediglich, es sei bekannt, dass der rumänische Geheimdienst auch Akten manipuliert habe: „Diesen Verdacht einer üblen, mehrfachen Manipulation habe ich auch in meinem Fall.“ Wissenschaftler und Zeitzeugen halten diesen Einwand gegenüber REPORT MAINZ jedoch angesichts der zahlreichen handschriftlichen Berichte und anderer Indizien nicht für stichhaltig.

Franz Thomas Schleich zählte damals zum Bekanntenkreis von Herta Müller in Rumänien. Er veröffentlichte Gedichtbände und arbeitete als Journalist für die „Neue Banater Zeitung“. Anfang der 1980er Jahre stellte er einen Ausreiseantrag und machte im Westen mit regimekritischen Artikeln im „Stern“ auf sich aufmerksam. Auf Vermittlung des damaligen Bundesaußenministers Genscher durfte er schließlich in die Bundesrepublik ausreisen, wo er sich in Presseartikeln und Fernsehinterviews als Opfer des Regimes darstellte. Er lebt bis heute in der Nähe von Ludwigshafen, wo er Karriere in der Kommunikationsabteilung eines großen Linoleumkonzerns machte.

Nach Angaben des Zeitzeugen William Totok und des Historikers Georg Herbstritt gegenüber REPORT MAINZ suchte der frühere Spitzel „Voicu“ sogar noch einige Jahre nach seiner Ausreise in die Bundesrepublik erneut den Kontakt zur Securitate. Wörtlich erklärt Rumänien-Experte Herbstritt im Interview: „Wir wissen aus den Akten, dass er noch mal nach Rumänien zurückgekehrt ist (...), und in Rumänien in der Zeit, in der er dann zu Besuch dort war, noch mal berichtet hat für die Securitate.“ „Voicu“ sei ein „sehr eifriger Spitzel gewesen“, der bereitwillig Belastendes berichtet habe.

Im Interview mit REPORT MAINZ erklärt Herta Müller, die Lektüre ihrer Opfer-Akte des Geheimdienstes belaste sie: „Ich habe immer viele Jahre gedacht, im Freundeskreis hätte es keine Spitzel gegeben. Ich habe jetzt gemerkt, dass das nicht so ist.“ Es sei nicht leicht, mit dem Verrat enger Freunde und Bekannter umzugehen: „Es frisst einen innerlich auf, und man dreht die Dinge im Kopf hunderte Male hin und her. (...) Das hält einen immer gefangen und es zermürbt auch.“ Sie hoffe, dass nun angesichts der Aktenbelege eine Diskussion in Gang komme und Securitate-Spitzel wie „Voicu“ sich erklären und gegebenenfalls auch juristisch verantworten müssten.

Herta Müller fordert, dass gegen in Deutschland lebende Securitate-Spitzel ermittelt wird. Es gebe nicht nur ein Defizit bei der Strafverfolgung, es sei vielmehr bisher gar nichts geschehen. „Deutschland ist ein gemütliches Reservat für Securitate-Spitzel“, kritisiert die Literaturnobelpreisträgerin. Müller spricht sich gegenüber REPORT MAINZ für eine Aufarbeitung der Securitate-Vergangenheit nach dem Vorbild des Umgangs mit den früheren Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) des DDR-Staatssicherheitsdienstes aus. Die Securitate sei auch ein deutsches Problem: „Sowohl Opfer wie auch Täter sind jetzt hier und deutsche Staatsbürger.“ Nach Schätzungen von Wissenschaftlern leben zwischen 500 und 2.000 frühere Spitzel des rumänischen Geheimdienstes in Deutschland.
Stand: 11.1.2010, 13.57 Uhr

Text: Pressemitteilung SWR

Hier Link der Pressemitteilung des SWR.


Report Mainz, 11.1.10, Sendung, ARD, 21:45 Uhr

Wiederholungen:

12. Januar 2010
00:40 Uhr, SWR Fernsehen
05:00 Uhr, Das Erste
07.30 Uhr, EinsExtra
09:30 Uhr, rbb
20.15 Uhr, EinsExtra

'Informatorul şi laureata
Premiului Nobel', DW, 12.1.2010
Anexă NOTA - RAPORT din 11 aprilie 1986. Semnează lt. col. de Securitate, Nicolae Pădurariu - după întîlnirea cu Franz Schleich. 

Der Spitzel und die NobelpreisträgerinWie ein befreundeter Schriftsteller Herta Müller an die Securitate auslieferte

aus der Sendung vom Montag, 11.1.2010 | 21.45 Uhr | Das Erste

Literatur zum Thema

(Anm. HJS: Einige der eingebauten Links funktionieren nicht mehr. Viele Seiten wurden inzwischen gelöscht oder durch neue ersetzt.) 

[Aktualisiert 4.3.2023; 14:30 Uhr]

Mittwoch, Januar 06, 2010

Securitatedokumente


Originale und Abschriften

In letzter Zeit sind mehrere Artikel erschienen, in denen die Verfasser das Problem der Authentizität von Securitatedokumenten thematisieren. In einigen dieser Beiträge wird auch das Problem des Wahrheitsgehaltes solcher Dokumente angesprochen, ob diese exklusiv den Vorstellungen der politischen Polizei entsprechen oder ob man diese schriftlichen Materialien nicht als Produkte geheimpolizeilicher Manipulationen einschätzen und somit ignorieren sollte.
In diesem Zusammenhang wurde auch die Vermutung geäußert, maschinengeschriebenen Abschriften von Berichten inoffizieller Mitarbeiter dürfe man nicht trauen, denn bei der Anfertigung solcher Kopien habe man die Urfassung des Textes verfälscht, um den Inhalten eine andere, von der Behörde gewünschte Aussagerichtung zu geben.
Die Securitate war wohl eine Organisation, zu deren Metier die Desinformation gehörte. Selbst innerhalb ihrer eigenen Abteilungen musste im Sinne dieses Prinzips gearbeitet werden. Dies geschah aber um gewisse, als streng geheim eingestufte Aktionen zu tarnen und die Konspirativität solcher Tätigkeiten zu garantieren.
Die Securitate war jedoch nicht daran interessiert, Berichte ihrer Mitarbeiter umzuschreiben. Das wäre gleichbedeutend mit einer Verminderung des operativen Werts eines solchen Dokuments und hätte beispielsweise beim Entwerfen neuer Maßnahmepläne die informativen Möglichkeiten eines Mitarbeiters für einen konkreten Einsatz verzerrt dargestellt. Die Securitate musste anhand erhaltener Berichte genau erkennen, ob der Mitarbeiter für einen Einsatz geeignet ist und ob er die erhaltenen Instruktionen sachgemäß ausführt.
Anhand von gefälschten Abschriften, die in den verschiedenen Abteilungen bzw. Akten als maschinenschriftliche Kopien abgelegt wurden, wäre der regelmäßig vorgenommene Loyalitäts- und Eignungstest kaum möglich gewesen.
Dass sich in manche Kopien Tippfehler eingeschlichen haben, ist eher ein Ergebnis der Unaufmerksamkeit einer Daktylographin als eine absichtliche Dokumentenfälschung.
Wie penibel auf die mechanische Verschriftlichung handgeschriebener Originale geachtet wurde, veranschaulicht folgendes Beispiel. Es handelt sich um einen Originalbericht des inoffiziellen Mitarbeiters "Gruia"(*), der am 15. August 1976 verfasst wurde. Das handschriftliche Original befindet sich im OV "Interpretul". Eine maschinenschriftliche Kopie wurde gleichzeitig für die Akte von Gerhard Ortinau angefertigt und befindet sich im OV "Titan".

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[D.U.I. "Interpretul"], ACNSAS, I 210845, vol. 2, Bl. 109-111v


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[D.U.I. "Titan"], ACNSAS, I 233471, vol. 1, Bl. 71-72


(*)  Einzelheiten über die Identität und aktive inoffizielle Tätigkeit von "Gruia" sind in der Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik, 21. Jg., Heft 2, 2009, S. 98-117, nachzulesen.